Internationale Poetry-Biennale  -  Filmfestival  -  Salon  -  Netzwerk

Sonntag, 6. November, 15 Uhr

 


Şehbal Şenyurt Arınlı
(Türkei / Turkey)

Festival Focus Writers in Exile - PEN Germany

Şehbal Şenyurt Arınlı, *1962 in Giresun, lebte in Istanbul, Bodrum, Amed (Diyarbakır). Sie ist Dokumentarfilmerin und -produzentin, war die erste Kamerafrau der Türkei und arbeitete für internationale Presseorgane, TV- und Nachrichtenmagazine. Der Dokumentarfilmverband BSB wurde von ihr gegründet, sie engagierte sich für die Präsenz von Frauen in der Filmbranche und in NGOs zur demokratischen Lösung des Kurdenkonflikts.

Als Gründungsmitglied der Frauennachrichtenagentur JINHA gehören Minderheitenrechte, Genozid, Kurdenkonflikt, Antimilitarismus, Kampf für Frauenrechte oder Entwicklung alternativer ökologischer Lebensmodelle zu den Hauptmotiven ihres engagierten Arbeitens auch in politischen Funktionen, sie kandidierte 2011 für das Parlament. 2017 wurde sie erneut festgenommen und konnte nur durch einen Zufall nach Deutschland fliehen.

Von 2017-20 war Şehbal im Writers in Exile-Programm und setzte ihre Aktivitäten fort. Jetzt lebt und schreibt sie in Fürth. Zuletzt veröffentlicht: Leben aus dem Koffer, Gehversuche im Exil, 2022.

www.sehbalsenyurtarinli.net

Şehbal Şenyurt Arınlı, *1962 in Giresun, lived in Istanbul, Bodrum, Amed (Diyarbakır). She is a documentary filmmaker and producer, was Turkey's first camerawoman and has worked for international press, TV and news magazines. She founded the documentary film association BSB and campaigned for the presence of women in the film industry and in NGOs for a democratic solution to the Kurdish conflict.

As a founding member of the women's news agency JINHA, minority rights, genocide, the Kurdish conflict, anti-militarism, the fight for women's rights or the development of alternative ecological lifestyles are among the main motives of her committed work, also in political functions. She ran for parliament in 2011. In 2017 she was arrested again and was only by chance able to flee to Germany.

From 2017-20 Şehbal was in the Writers in Exile program and continued her activities. Now she lives and writes in Fürth. Latest publication: Leben aus dem Koffer, Gehversuche im Exil (Life out of a suitcase, Walking attempts in exile), 2022.

www.sehbalsenyurtarinli.net

 

Leben aus dem Koffer

I
Nürnberg, 11. September 2017 –􏰎 19. September 2017

Dämmerung, kurz vor Tagesanbruch. Der Tag vermag die dicken, kalten Mauern nicht zu durchdringen. Er bringt keine Hoffnung für die, deren Hoffnung er seit Jahren mit jedem neuen Morgen genährt hat.

Welche Tür war das?, dachte sie. Welche Tür?

Mitten im Flur verharrte sie und zuckte unruhig, bis sie sie fand. War sie wach, oder schlief sie noch und war an Gott weiß welchem Ort? War sie im Fegefeuer des Nichts, der Leere, des Vakuums, wo Zeiten und Orte sich mischten und ineinander verwoben?

Welche Tür? Wo? Wo diesmal?

Der grässlichste Augenblick des Exils ist der Moment, in dem man erwacht. Ja, es ist exakt der Moment, in dem du fragst: Wo bist du?

Die Zellen des Körpers stellen Fragen: Soll ich mich nach rechts wenden oder nach links? Gibt es da vor mir etwas, gegen das ich stoßen könnt􏰐e ... das􏰕 ich 􏰊zer􏰏br􏰏echen􏰐 könnte ...􏰐􏰗 womit􏰞􏰒􏰔􏰗 ich Krach m􏰔achen􏰐 könnt􏰜􏰐􏰐􏰗e ...􏰝 vor 􏰖dem ich mich hüten􏰐 sollt􏰗e? An 􏰞welche􏰏r Wand befa􏰐nd 􏰕sich 􏰐􏰒nochm􏰔al der􏰏 Lichs􏰗􏰕chalter? A􏰈uf 􏰞welche􏰏r Seit􏰗e w􏰞ar􏰏 die Wan􏰐d?􏰝 ... Jede Körperzelle antwortet einzeln: Dreh dich nach links, links ist frei, nein, da stand doch der Beistelltisch. Die Brille 􏰝... dei􏰐ne Brille ... W􏰒o hast du deine Brille hingelegt? Unters Bett. Nein, du hast sie auf dem Tisch liegenlassen. Beim Aufstehen tasten deine Füße nach den Latschen. Nein, wirst du sagen, du hast hier noch gar keine Latschen.

Du weißt, dass du von einem Wassertröpfchen zum nächsten springst, und wenn sie verdampfen, fällst du ins Leere. Du bist stets in der Schwebe.

Der Flur ist klein, quadratisch. Alle Türen öffnen sich nach hier. Die Wohnungstür, dann 􏰎 von rechts nach links 􏰎 das Bad, die Toilette, die Küche, das Schlafzimmer, das Wohnzimmer, das Arbeitszimmer. Und dann wieder die Wohnungstür.

Es riecht.
Es riecht nach Einöde.
Säuerlich.

Das hier ist ein vorübergehender/anbetungswürdiger Zufluchtsort, geschaffen für Schriftsteller im Exil.

Hier riecht es nach gelebten Einsamkeiten. Es riecht nach gelebten Bemühungen um Halt, nach den Mühen, aus Schweiß und Blut/im Schweiße neu geboren zu werden. Es riecht nach Zuständen von Zuflucht.

Sauer. Herb. Wenn das Handtuch, mit dem man sich das Gesicht abtrocknet, tagelang keine Sonne sieht, riecht es nach Schmutz und Schweiß, gepaart mit Schimmel. Genauso halt.

Drei Nächte, seit ich gekommen bin. Zwei Tage, drei Nächte.

Endlich eine Station, an der ich innehalten kann. Endlich ein Ort, an dem ich mich aus dem Schwebezustand befreien und durchatmen, wo ich das Sieb meines Lebens aufstellen kann. Endlich ein Dach, unter dem der Körper seine Richtung findet, ohne den Verstand einzuschalten, um Gewohnheiten zu entwickeln, die einem einen Augenblick der Erholung schenken. Endlich eine Oase! Endlich!

 

Aus: Leben aus dem Koffer, Aschendorff Verlag, 2022
Übersetzungen von Sabine Adatepe, Monika Demirel