Internationale Poetry-Biennale  -  Filmfestival  -  Salon  -  Netzwerk

Samstag, 26.10. | 19 Uhr

Ariane von Graffenried
(Schweiz / Switzerland)

Ariane von Graffenried ist Schriftstellerin und promovierte Theaterwissenschaftlerin. Sie ist Mitglied der Autor*innengruppe Bern ist überall, Kuratorin des Internationalen Lyrikfestivals Basel und tritt als Spoken-Word-Performerin im Duo Fitzgerald & Rimini auf.

Von Graffenried schreibt Prosa, Gedichte und Theaterstücke. Viele ihrer Texte weisen Vielsprachigkeit auf und sind auf den performativen Vortrag ausgerichtet. 

2017 erschien ihr Buch Babylon Park, 2019 folgte 50 Hertz, eine CD mit Gedichtband. Für ihre Texte wurde sie mehrfach ausgezeichnet. 

www.avgraffenried.ch
www.fitzgeraldrimini.ch

 

 

 

Foto Claudia Herzog

Fräulein Rottenmeier
Die Gouvernante aus Johanna Spyris Roman «Heidi» 

Eine Wanduhr tickt, 
es ist schon spät. 
Ein letzter Blick 
streift die Bibliothek.
Das Fräulein trägt aufrecht
und in sich gekehrt 
die Oberaufsicht 
und das Nadelkissen
nach einem dicht gestickten 
Lange-Stunden-Tag
in ihre kalte Kammer, 
legt die Stacheln zusammen
mit dem steifen Kragen
und dem Korsett
aufs Kirschbaumbett. 

In Frankfurt 
fällt der Mond
durchs Fenster, 
ein scharfer weisser Strich 
auf Fräulein Rottenmeiers
Gesicht. Sie löst die Kuppe
auf dem Kopf und schluckt
ein Gähnen. 
Der Turm aus Haar zerfällt
zum schwarzen Meer
durchsetzt mit 
weissen Strähnen. 

Lebertran liegt in der Luft, 
der Duft von Wollblumen-
Tee und Tinte. 
Einsamkeit in Eigenregie
ist das respektierte Los 
der Gouvernante. 

An der Tischkante ruht
auf einem knitterfreien 
Taschentuch 
Fräulein Rottenmeiers 
Tagebuch, Memoiren
einer Tochter 
aus gelehrtem Schoss, 
autonom, ungebunden,
mittellos.
Makellose Protokolle 
einer Fremden und Gesandten 
zwischen Küche und Salon. 
Der Tresor 
eingefrorener Träume 
von Küssen und Kotillons. 
Zeugnisse kleiner Risse
im spröden Herz, 
wie Spalten in Tassen, 
was Hänseleien und Spott 
halt so hinterlassen.
Der stille Sonntag, 
Treue, Redlichkeit 
und Drill als Gebot, 
Bestimmung, täglich
Brot. 

Fräulein Rottenmeier 
greift zur Rettungsfeder, 
kniet im offenen Beinkleid 
nieder zum Gebet. 
Sie schreibt: 

«Lieb mich, 
o Herr im Himmel,
bewahre mich 
vor Mangel und
vor Schimmel, 
vor Kummer 
und vor wilden
Schweizer Kindern, 
vor reichen Gören 
und häuslichen 
Malheuren.
Und bitte,
bitte, lieber Gott, 
näss mir heute 
Nacht die Lenden
und lass mich 
im Alter nicht
im Armenhaus 
verenden.» 

Eine Wanduhr tickt,
das Tafelsilber oxidiert.
Der Rücken zwickt. 
Der Mond sieht die 
Gouvernante 
wie hypnotisiert
ihre Sätze spinnen. 
Die mittleren Jahre 
verrinnen. 

Zur bleiernen Stunde 
steigt Fräulein Rottenmeier 
ins Bett, 
sie geht zur Ruh
und deckt ihr Kapital, 
den Intellekt, 
mit einem Laken zu. 

Der Traum neckt glänzend
die geschlossenen Lider. 
Wider jede Grenze 
tanzen hinter 
verblassenden Gardinen
emanzipierte Gespenster
in rauschenden Röcken
und ohne Gatten, 
werfen drohende Schatten
in dem Haus 
der Sesemanns. 

Lebertran liegt in der Luft, 
der Duft von Wollblumen- 
Tee und Tinte. 
Einsamkeit in Eigenregie 
ist das respektierte Los 
der Gouvernante.

in: Fitzgerald & Rimini: 50 Hertz. Der gesunde Menschenversand, 2019
https://www.youtube.com/watch?v=gVvFa2IkCXw

 

Fräulein Rottenmeier
The governess from Johanna Spyri’s Heidi

On the wall, a clock ticks—
it’s gotten quite late.
A single last look
at the walls filled with books.
Standing tall and prim,
her thoughts turned within,
she takes her supervision
and a pincushion
after a thickly stitched
long-hour workday
into her small cold room,
sets down her prickles
with the stiff collar
and the corset
on her cherrywood bed.

In Frankfurt 
moonlight falls
through the window,
a sharp white stroke
on Fräulein Rottenmeier’s
face. She undoes the crest
upon her head and swallows
a yawn.
The tower of hair tumbles
into a black sea
crossed by
white strands.  

There’s cod liver oil in the air,
the scent of mullein
tea and tension.
Singlehanded loneliness
is the respected lot
of the governess.

On the table’s edge
on a wrinkleless
handkerchief rests
Fräulein Rottenmeier’s
diary: memoirs
of a daughter
from an educated home.
Autonomous, fancy-free,
penniless.
Impeccable records
of a stranger sent to fetch
between kitchen and salon.
The lockbox
of frozen dreams
of kisses and cotillions.
Evidence of little fissures
in a brittle heart,
like cracks in cups,
just what taunts and scorn
tend to leave behind.
The quiet Sunday,
loyalty, integrity,
drilling through her head;
life’s purpose, daily
bread.

Fräulein Rottenmeier
takes up her trusty pen,
in open pantaloons
she kneels to pray.
She writes:

“Love me,
oh Lord above,
save me
from failings and           
from stains,                   
from pain                   
and from wild Swiss brats,
from rich hussies
and household
mishaps.
And please,
please, dear God,
let my loins
be wet tonight
and when I’m gray      
let me not
end up
a poorhouse slave.”      

On the wall, a clock ticks,
the silverware tarnishes.     
Her back aches.
The moon watches the
governess
spinning sentences
in a trance.
The middle years
elapse.

At the hour of lead
Fräulein Rottenmeier climbs
into bed,
she comes to rest
and covers her capital—  
her intellect—
with a blanket.    

Teasing, the dream shines
Beneath closed eyelids    
Crossing all the lines,
liberated phantoms
dance behind 
faded drapes
in rustling skirts
and without spouses,
throwing threatening shadows
round the Sesemanns’                         
house.

There’s cod liver oil in the air,
the scent of mullein
tea and tension.
Singlehanded loneliness
is the respected lot
of the governess.


Translation: Anne Posten