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Bamberg - Freitag, 11. November, 19 Uhr

 


Olga Martynova & Daniel Jurjew
(Frankfurt / Russland/Russia)

Olga Martynova, geb. 1962 in Sibirien, aufgewachsen in Leningrad, wo sie in den 1980ern die Dichtergruppe "Kamera Chranenia" mitbegründete. 1991 zog sie zusammen mit Oleg Jurjew (1959–2018) nach Deutschland. Seit 1999 schreibt sie literarische Texte nicht nur auf Russisch, sondern auch in deutscher Sprache.

Olga Martynova ist Mitglied des PEN und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur (Mainz). Sie erhielt u. a. den Ingeborg-Bachmann-Preis (2012) und den Berliner Literaturpreis (2015).

Zuletzt erschienen bei S. Fischer Der Engelherd, Roman (2016) und Über die Dummheit der Stunde, Essays (2018).

„Olga Martynova erobert der deutschsprachigen Erzählprosa eine Rätselhaftigkeit zurück, wie es sie bei Alfred Döblin und Arno Schmidt einmal gab“ (Jan Wiele, FAZ).

Olga Martynova, born in Siberia in 1962, grew up in Leningrad, where she co-founded the poetry group "Camera Chranenia" in the 1980s. In 1991 she moved to Germany with Oleg Yuryev (1959-2018). Since 1999 she has been writing literary texts not only in Russian but also in German.

Olga Martynova is a member of PEN and the German Academy for Language and Poetry as well as the Academy of Sciences and Literature (Mainz). She received i.a. the Ingeborg Bachmann Prize (2012) and the Berlin Literature Prize (2015).

Recently published by S. Fischer Der Engelherd, novel (2016) and Über die Dummheit der Stunde, essays (2018).

"Olga Martynova recaptures a mysteriousness in German narrative prose that Alfred Döblin and Arno Schmidt once had" (Jan Wiele, FAZ).

Daniel Jurjew wurde 1988 in Leningrad geboren und kam 1990 mit seinen Eltern nach Deutschland. Studium der Dt. Literatur, Philosophie, Geschichte in Konstanz und der Biophysik, Japanologie, Sinologie und Informatik in Frankfurt am Main. 2016 Bachelor in Japanologie (HF) und Sinologie (NF) an der Universität Frankfurt am Main. Studiert gegenwärtig Japanologie und Informatik in Frankfurt am Main.

Jurjew arbeitet seit 2012 als freier Literaturübersetzer, Lyriker und Publizist. Das von ihm übersetzte „Die Manon Lescaut von Turdej“ von Wsewolod Petrow gewann 2013 den Hotlistpreis der unabhängigen Verlage. Jurjew ist Finalist des open mike 2020.

Daniel Jurjew stellt Gedichte der 2010 verstorbenen Lyrikerin Jelena Schwarz vor. Ihr Buch auf der Fensterbank und andere Gedichte wurde von ihm herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt und erschien bei Matthes & Seitz, 2022.

Daniel Jurjew was born in 1988 in Leningrad and came to Germany with his parents in 1990. Studies in German Literature, Philosophy, History at Konstanz University and in Biophysics, Japanese Studies, Chinese Studies and Computer Science at Frankfurt University, where he received a Bachelor's degree with a Major in Japanese Studies and a Minor in Chinese Studies in 2016. He is currently studying Japanese Studies and Computer Science in Frankfurt.

Jurjew has been working as literary translator, poet and journalist since 2012. His translation of Vsevolod Petrov's „The Manon Lescaut of Tourdey“ won the German Hotlist Prize in 2013. Jurjew is finalist of 2020's Open Mike contest (Berlin).

Daniel Jurjew presents poems by the poet Jelena Schwarz, who died in 2010. Her book Buch auf der Fensterbank und andere Gedichte was edited and translated from Russian by Jurjew and published by Matthes & Seitz, 2022.

Foto Martin Richartz

***
Das Gedicht transzendierte die Wirklichkeit nicht mehr. Da stand es und war nur noch sachliche Aussage: so und so, und der Kapo brüllt „links", und die Suppe war dünn, und im Winde klirren die Fahnen.
Jean Améry


Kommt die Taube hinzu, sagt: „Hölderlin“.
Oleg Jurjew

Vu nemt men a bisele mazl,
Vu nemt men a bisele glik.
Jiddisches Lied

Weh mir, wo nehm‘ ich
die Suppe,
im Winde die Fahnen dünn,
wehs mir
so oder so,
und der Kapo
im Schatten der Erde.
Die im Winde klirrenden „links".
Und der Kapo trunken von Küssen:
Vu nemt men a bisele mazl.
Dünn waren die Fahnen.
Wehs mir, vu nehm‘ ich,
wenns Winter ist,
Rosen a bisele,
mazl a bisele, 
Schatten, a bisele
Erde, a bisele glik.
Wehs mir, vu nemt men 
gelbe Birnen
und wilde Suppe,
a bisele Wasser,
und der Schatten brüllt,
wo nehm‘ ich a bisele
mazl, wenns Winter und Blumen,
und Sonnenschein, wehs mir,
die Mauern stehn
im Schatten der Erde.
A bisele Erde
im Schatten des Gliks.

MEHR LEBENDE ODER MEHR TOTE?

1.

Wenn es gleich viele Tote wie Lebende gibt,
kommt die Endzeit,
prophezeite Bucephalus,
kurz bevor er sein letztes Gewieher von sich gab,
und Alexander dachte an eine Schlacht
zwischen Toten und Lebenden,
und setzte fort,
die Zahl der Toten zu vermehren.

2.

Mehr Lebende gibt es,
Die Toten sind nämlich nicht mehr, -
sagten Inder dem Makedonier. 
Er war enttäuscht.
Ihm schwebte eine Schlacht
zwischen Lebenden und Toten vor.
Er wusste nur nicht,
auf wessen Seite er streiten würde,
sowieso als Gott, dachte er, egal,
als Gott ist es egal.

Aber es gibt mehr Tote.
Besonders, wenn ich
Buchregale entlang denke.

Die Brahmanen sagten das vermutlich bloß,
um wenigstens die Toten vor ihm zu schützen.
Denn es gibt mehr Tote,
das wussten sie.
Es gibt mehr Tote, besonders, wenn ich
Buchregale entlang denke.

 

Andererseits: Ist der tote Tschechow
toter als die von ihm besungenen
Stachelbeermännchen?

War Eurydike mit ihrem
Wie eine Blume nach dem Sonnenuntergang
geschlossenen Geschlecht
toter als die Mänaden,
die Orpheus‘ Gekröse auskrallten?
Аls die Mänaden
mit Wein und Verwesung in den Adern?

Sind Ovid, Vergil und Broch
toter als ich?
Das kann ich nicht glauben.