Internationale Poetry-Biennale  -  Filmfestival  -  Salon  -  Netzwerk

Meike Harms
(München)
Freitag, 23. Oktober, 21.30 Uhr

live - whiteBOX München

Foto Ursula Baumgart

Meike Harms lebt im Outback Münchens. Sie studierte Geisteswissenschaftliches in Augsburg und absolvierte eine Ausbildung zur Poesiepädagogin in Berlin. Sie leitet kreative Schreibprojekte für Menschen jeden Alters und jeder Herkunft. Außerdem bildet sie Lehrkräfte fort. Als Bühnenpoetin bereist sie den gesamten deutschsprachigen Raum. 2014 wurde sie bayerische Meisterin und 2019 Münchner Stadtmeisterin im Poetry Slam.

Zu lesen ist sie in Poesie kann Karate (Tinx-Verlag, 2015) und Lautstärke ist weiblich (Satyr Verlag, 2017).
Sie mag Buchstaben in allen Geschmacksrichtungen und Fahrräder.

Poetry for Future mit Münchner Slam Poetinnen / Poetry for Future with Munich Slam Poets

Meike Harms lives in the outbacks of Munich. She studied humanities in Augsburg and poetry education in Berlin. She leads creative writing projects for people of all ages and backgrounds and also trains teachers. As a stage poet, she travels the entire German-speaking region. In 2014 she became Bavarian slam poetry champion and in 2019 Munich city champion.

Meike can be read in Poesie kann Karate (Tinx-Verlag, 2015) and Lautstärke ist weiblich (Satyr Verlag, 2017).
She likes letters of all flavors and bikes.

Autonomie, die
„Die Fähigkeit, sich als Wesen der Freiheit zu begreifen
und aus dieser Freiheit heraus zu handeln.“

 

Autonome Poesie

Da Poesie grundsätzlich unterschätzt wird, möchte ich Folgendes vorausschicken:
Chuck Norris macht aus nichts Poesie,
doch Poesie macht sich nichts aus Chuck Norris.

Dort wo die Alliterationen schön wohnen
und auch der Binnenreim ist hier daheim
liege ich unterm Poet-Tree.
In ihm und drumherum summt die Poet-Bee.
Mit dickbauschigen Metaphernhöschen
schwebt sie von Röschen zu Röschen,
begrüßt mit eifrigem Flügelschlag
den wortprächtigen Sommertag.
Getränkt in honigsüßen Gesängen hängen
Wortzweige satt vor meinen Ohren und nehmen kein Blatt vor den Mund,
Ideen klingeln wie neugeboren und tun sich glockenhell kund.
Ein Elfchen musiziert auf seiner Flöte
zu Versen des Großmeisters Goethe,
während ein Spatz engagiert
das romantische Mantra von Eichendorff rezitiert:

"Wünschelrute
Schläft ein Lied in allen Dingen
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort"

Wattdenn, wattdenn, wattdenn?
Ick hör immer schlafen und singen,
aber doch bitte nich uff Abeet!
Hier ja, da wird ne janz andere Musik jespielt,
dass mir det klar jeht.
Und det jezaubere, det überlässte man schön dem David Copperfield!

Aber Poesie ist doch die Biene,
deren Flügel des Gesangs ohne Leben verkrüppeln und verkleben.
Dann schläft kein Lied in keinem Ding.
Und wer denkt, wir könnten auf das alberne Dichten
doch einfach verzichten,
ist sich der Tragweite von Bienenflügeln nicht bewusst;
sie schlagen in jeder Brust.

Hört her ihr Bestsellerbesteller, ihr Amazonempfehlungskäufer,
ihr vom sinkenden Schiff ans sichere Ufer Überläufer,
ihr Verlagswesen alias Medienkaufleute „Digital und Print“, ihr Literaturagenten 0815:
Erst wenn das letzte Lyrikskript abgelehnt, der letzte Poet gebrochen
und das letzte Zauberwort gesprochen ist,
werdet ihr merken, dass man Kochbücher nicht essen kann.

Nein, auch nicht die von Jamie Oliver.
Und deshalb brauchen wir jetzt eine Strategie,
lebensrettende Sofortmaßnahmen für die Poesie.
Mund-zu-Mund-Propaganda und Buch-Druckmassage,
ernste Wortspieler mit Textstil-Courage.
Wir brauchen den tödlichen Pass in den Tiefsinn
spielwitzig gepaart mit einem Schuss Torheit,
einen roten Klangteppich für die Sponsoren,
Brot und Verse fürs Volk und Opium für die Ohren.

Wir brauchen Anarchovokabulisten,
die im Kampf für Neologismen das Rechtschreibprogramm überlisten.
Sie reimen Oreganoorigami auf Lamasalami
und Salamandermandala auf Durcheinandertanzgala,
lecken die Creme-de-la-Crème fraîche
unverwundener Wendungen von ihren Lippen,
während sie ausgeflippte Manuskripte dip-tippen
und schleudern das triefende Wortgewäsch,
bis das Abtropfgewicht
ihrem jugendlichen Leichtsinn entspricht.

Im Auftrag der Poesie
zwingen sie die monokulturelle Unterhaltungsindustrie
mit der verbalen Keule in die Knie.

Denn Poesie kann Karate, Poesie kriegt sie alle;
Poesie schafft Zitate, Poesie für alle Fälle.
Denn verlässt Poesie unserer Kehle,
dann ist sie Boom Chicka Wah Wah für die Seele.
Poesie spielt unser Lied, sie macht keinen Unterschied
zwischen arm oder reich; vor Poesie sind alle gleich.

"Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt",
hat Wittgenstein einst festgestellt.
Dabei hat er nicht bedacht, was Poesie mit Grenzen macht.

Sie verschwimmen und verschwinden, Gedichte verbinden
Menschen, und deren Phantasien,
schaffen Eindeutigkeit in Paradoxien
oder widersprechen dem Aussagendiktat,
durchbrechen den Trennstrichstacheldrahtapparat
eingemauerter Ideenbändigung
- das ist ihr Beitrag zu Völkerverständigung.

Poesie schafft grenzenlose Wahrheit, weil sie konkret
nicht nur zwischen den Zeilen, sondern auch über den Dingen steht.

Deshalb ist sie auch meine Wahrheit; ehrlich, aber verdammt gefährlich.
So wie freihändig und mit geschlossenen Augen Fahrrad fahren.
Die Welt rotiert unter meinen Füßen und die Zeit flattert in den Haaren.