Ingeborg Middendorf

Mein Kind

Wie gern hätte ich mein Kind zurück,
erwachsen geworden,
reitend auf einem starken Roß
mit im Winde fliegender Mähne

Davor

Als mein Mund, der heiße,
noch voller Lieder war
und voll von Küssen
die Zeit davor.

Fliegen

Wenn Du jetzt
noch einmal sagen könntest
vergiß es-1-
und Du auch.

Mich an der Hand herumwirbeln würdest
um mich selbst
damit ich dann fliege in
einen freieren Himmel

Ich würde nichts mehr sagen müssen
und Du könntest mich
trotzdem verstehen.

Baum

Baum mein Freund Du
so voller Musik unter den Fingern
des Windes

Zuhause

aber das Land ist weit
und mein Herz
wohnt nicht bei Euch

Mutter

und manchmal,
heute noch
die Vorstellung, die Mutter
trete, wie jetzt, zur Tür herein.

Eine Nackte
unter Angezogenen

Am Zug

Als der Zug abfuhr
ratterten die Räderwerke
seines Herzens

Da schrie er :
Baby hör doch mal
Bleib! Bleib!

Jemand ist gekommen.
Der spielt Klavier
Einfach Klasse.

Für Jimmy Dean
immer noch

Ich denke an alle Gesichts – und Namenlosen,
von denen nur zwei oder drei Menschen länger sprechen,
einige Monate oder Jahre,
nachdem sie eingegraben oder eingeäschert wurden.
An alle Gescheiterten denke ich.

An Norma Jean, die nicht Marilyn Monroe wurde.
In einem finsteren Zimmer liegt sie auf dem Bett
und starrt an die Decke
froh, daß ihre drei Kinder bei der Mutter sind
für eine Woche.

An Marcel Proust denke ich,
ein verarmter Adliger, der aus allen Stellungen fliegt.
Dunkel ahnt er sein Werk und kann oft
vor Angst nicht schlafen.

An Greta Garbo.
Sie hat früh und reich geheiratet und versucht,
ihre innere Unruhe auszutreten
in langen Spaziergängen :
ein schwelendes Feuer.

Ich denke an Picasso, der nicht Picasso wurde.
Er läßt sich von einer Frau aushalten und
malt gelegentlich , wenn er
aus seiner Tablettenbetäubung aufschaut
an einer Kopie des Knaben mit der roten Weste.

Mick Jagger findet man im Roxy,
meist besoffen.
Die Musik hat er längst aufgegeben.

Jetzt ist Ende der Autobahn, schreit Nietzsche,
bevor er die erste Zeile schreibt und
stürzt sich aus dem Fenster des fünften Stockes.
Er war schon lange ein Todeskandidat,
sagen seine Freunde.

Goethe verkümmert in den Amtsstuben
Napoleon reibt sich auf in einer illegalen Partei.
Madame de Stael findet man schon morgens
bei Cafe Möhring
Sie schlägt sich da mit Sahnekuchen voll.

Charly Chaplin wankt über den Kudamm,
schäbig angezogen mit viel zu großen Schuhen
und haut Passanten an.

Romeo und Julia schlagen sich die Nasen blutig
um vier Uhr morgens.
Casanova erledigt die Liebe per Telefon.

Nur James Dean fliegt zu den Filmfestspielen nach Cannes.
Er las von seinem Tod in der Zeitung und überlegte,
ob er es nicht doch noch Marlon Brando zeigen könnte:
lebendig.