Foto Tim Kuhn

Sara M. Schüller (D)

*1982 als Deutsch-Chilenin in Herrsching am Ammersee, arbeitet als freie Autorin, Radiomacherin, Übersetzerin und Küchensalonistin in München und Chile. Sie ist Preisträgerin des Literaturpreises und des Publikumspreises Wartholz 2015.

Letzte Veröffentlichungen: Valentina, Erzählung (2016), Keine, Erzählung (2015), Aufenthalt auf hiesiger Erde, Gedichte (2015) Aus der Ferne: Drei Schwestern, Hörspiel (2013).

Freitag / Fr 28.10. - 15 Uhr

  • *1982 in Herrsching, of German-Chilean descentShe is a freelance writer, radioshow producer, translator and arranges kitchen-salons in Munich and Chile.

    She has received the literature and audience award Wartholz 2015.

    Latest publications: Valentina, narration, 2016, Keine, narration, 2015, Aufenthalt auf hiesiger Erde, poems, 2015, Aus der Ferne: Drei Schwestern, radio play, 2013.

SANTIAGO,
du bist schön,
wenn du schweigst.

Santiago, der Stolz,
der deinen Leuten abhanden gekommen ist,
steckt er noch in der Erde bei Tobalaba,
fließt er noch im Mapocho,
oder fliegt er mit den Papageien
zurück nach Argentinien,
dieser wütende Nachbar, der deine Kinder zu sich nach Hause
einlädt?
hängt er in der Smog-
Glocke
zum Greifen nah?

Santiago, eres bella cuando callas,
diese ein, zwei Stunden bevor der Morgen über die Anden
kriecht.
die Anden, dieses, dein Geheimnis.
tus motañas son tu bendición, Santiago.

du also, Hauptstadt, du also bist es, die den Provinzen
alles stiehlt und noch immer schämst du dich nicht,
Santiago. du bist groß und voller Löcher, in die man stolpert, nicht nur
nachts
und ausversehen.
man muss den Fuß
höher aufsetzen, um nicht aus dem Rhythmus zu fallen.

Santiago, wenn deine Stunde gekommen ist
und der Erdboden alle gleich macht,
dann wird es die cordillera sein, die stumm
den nächsten Schrei aufnimmt
und dem Boden zurückgibt.
Santiago, wo unter dem Asphalt die Geschichte liegt:
diese zur Salzsäure erstarrte Frau,
die dem Folterer ins Auge blickt.
sie hat
zu viel
gesehen.
Santiago, cómo olvidar tus pecados?

immer Santiago, kommt alles
zu dir zurück,
du reißt sie alle an dich,
du Wagenlenker ohne Richtung,
du Justicia mit entbundenen Augen.
wie vergessen, Santiago, dass sich in deiner Alameda
die Hoffnung verstiegen hat
in die Hornbrille eines Mannes.
wie das Land
deinen ersten Menschen zurückgegeben wurde.

 

 

und dann,
wie sich deine Sprache veränderte:
wie la Moneda plötzlich nicht mehr die Münze
war sondern der dunkelste Seufzer
seit sie die Inseln
von ihren Bewohnern
befreit haben,
diese Kolonialherren.

Santiago, wann war ein Gebäude je so ein Pferd?
das Stöhnen des sich aufbäumenden Palastes,
der blutet. der blutet, bis er leer ist.
ja, man hat die Waffe neben der Brille gefunden.
ja, es gibt sie die Worte, die gesprochen wurden,
an jenem Tag.

sag Santiago, schämst du dich nicht?
schämst du dich nicht,
dass sich alles um dich dreht und du den Lauf nicht geändert
hast.
dass du ihn so vielen an die Schläfe gelegt hast.
und ja, Santiago, ich schreie es in die Löcher deiner Straßen,
damit es die Geschichte hört,
tausender
nicht Gefundener
und Gefundener.

Santiago, die Geschichte,
hat sie noch Leben unter dem vielen Salz, das auf ihr
vergossen wurde,
vibriert sie noch, wenn die Kinder laufen lernen,
vibriert sie noch unter den Flügelschlägen
dieser hartnäckigen Papageien,
die geblieben sind?

dein Stolz, Santiago,
er liegt auf den Anden.
die feinste Auflösung,
man merkt die Punkte kaum, die ihn formen.
aber sieh nicht hin:
el orgullo
volvera
́.
er soll sich die Hände
nochmal schmutzig machen,
wenn er deinen Asphalt aufreißt.
das nächste Mal.
er steigt herab, Santiago, wenn du schläfst, diese ein, zwei
Stunden,
wenn du schön bist,
cuando callas.