Münchner Feuilleton, Oktober 2016
Eine ganz legale Überraschungsdroge
Petra Hallmayer spricht anlässlich des 3. Schamrock-Festivals der Dichterinnen mit ⇒ Ulrike Draesner.
Dichten, heißt es in Ihrer »Münchner Rede zur Poesie«, erfordere »die Fähigkeit, das Nichts in Form von Nichtaufklärung, Nichtwissen und Unsicherheit auszuhalten, weder Fakten noch der Vernunft hinterherzujagen«. Bedarf es etwas von dieser Fähigkeit auch zum Lesen von Gedichten?
Ja. Ich Würde niemandem, der in Büchern nach einfachen Anleitungen sucht, zur Poesie raten. Aber wer angestoßen sein und in sich hineinhorchen möchte, den beschenkt sie reich. Sie lässt uns in eine Art Echoraum treten, in dem Bilder, Gefühle, Fragen entstehen. Poesie fordert uns auf, auf das zu hören, was nicht gesagt wird, aber in jedem Gespräch mitschwingt. In jedem von uns wirken viel mehr Schichten, als wir zeigen oder uns bewusst ist. Gedichte leben in diesen Zwischenräumen. Sie sind eine wunderbare Möglichkeit, um nicht zweckgerichtet nachzudenken, sich dafür zu öffnen, was man alles nicht weiß und vielleicht auch nicht wissen muss. Gedichte sind das Gegenteil von Schule.
Ihre Gedichte zeichnen sich durch komplexe Sprachreflexion aus, führen mitunter an die Grenze des Verstehbaren. Zugleich ist da eine kindliche Spiel- und Klanglust. Sind das zwei Seiten von Ihnen, die hier zum Klingen kommen?
Für mich gehören Spracherforschung und Spiellust zusammen. Es stimmt sicherlich, dass meine Gedichte nicht immer leicht zu verstehen sind, doch das ändert sich, sobald man sie hört. Ich erlebe das oft in Lesungen. Wir werden daraufhin geschult, Texte auf Inhalte, einfach reproduzierbare Bedeutungen hin zu lesen, eine Art Gebrauchsanweisungslesen. Gedichte setzen – wie Musik – auf einer anderen Ebene an, der des Gefühls, des Rhythmus und der Klanglichkeit. Beim Hören reagiert diese Ebene in uns. Ein Gedicht ist wie eine kleine Pille, die ich mir unter die Zunge legen kann und darauf warten, was passiert – eine ganz legale Überraschungsdroge.
Sie suchen nach einer neuen Sprache der Gefühle. Nun wurde noch nie so offen über Emotionen gesprochen wie heute. Andererseits gibt es in der Kunst eine große Angst vor zu viel Gefühl und der – wie Sie es formulierten – »Abgenutztheit des Liebesdiskurses«.
Jede Generation hatte damit ihre liebe Not. Der Erste, der Herz auf Schmerz reimte, war – wie Arno Holz bemerkte – ein Genie. Der Zweite schon ein Plagiator. Tatsächlich aber sind die Probleme mit der Glaubwürdigkeit von Gefühlsausdruck im Deutschen besonders groß. Das hat mit dem Missbrauch von Sprache durch den Faschismus zu tun, der eine berechtigte Gefühlsangst hinterlassen hat. In der Folge suchte man Zuflucht in Ironie und Coolness, Positionen, die man ungefährdet einnehmen kann. Ich finde es wichtig, Gefühlsbereiche zurückzuerschreiben. In dem Buch »Mein Hiddensee« versuche ich das in Bezug auf die Naturliebe. Wie kann man heute über Naturschönheit schreiben angesichts des Wissens um die Umweltzerstörung? Dennoch gibt es Schönheit immer noch als Gefühlswahrheit. Sie zu beschreiben, ist für mich nur auf dem Umweg möglich, den Kleist »über das Marionettentheater« erfindet: durch die Hintertür ins Paradies. Also mache ich in den Rauheiten und Kanten meiner Sprache klar, dass es all die Fragen und Fragwürdigkeiten gibt, und dann mag Schönheit aufscheinen, in einem Satz, einem Bild. Dann kann sie glaubwürdig werden – in diesem »trotzdem«.
Sie waren im Rahmen des Projekts »Poets Translating Poets« in Indien. Einige der Autoren sind nun bei »Schamrock« als »Dichterpaare« zu Gast: Sie treten mit Aruna Dhere auf die auf Marathi schreibt. Wie kann man Lyrik übersetzen aus einer Sprache, die man nicht beherrscht?
Das ist ein langer, sehr spannender Prozess. Ich bitte zunächst immer um eine Interlinearübersetzung, wirklich eine Wort-für-Wort-Übersetzung mit Erklärungen zu einzelnen Wörtern. Was ist die dominante Bedeutung, was schwingt mit? Da steht dann etwa: Rot Vogelessen pick. Dann notiere ich Fragen für die Gespräche mit den Autoren, bei denen Übersetzer dabei sind, wie: Welche kulturelle Bedeutung haben bestimmte Vögel? Ich lasse mir das Gedicht im Original vorlesen. Da sind wir wieder beim Hören: Meine Ohren erkennen Sinnbezüge, meine Augen andere Muster. Ich versuche möglichst viel durch und über das Gedicht zu erfahren. Es wäre allerdings ein Fehler, alles in die Übersetzung transportieren zu wollen. Ich muss es wissen, um entscheiden zu können, was ich weglasse. Die Lücken sind entscheidend. Schließt man sie, zerstört man Gedichte.
Viele Gedichte der asiatischen Autoren wirken themen- und botschaftszentrierter als die deutsche Gegenwartslyrik.
Das hat mit der unterschiedlichen Rolle von Lyrik in den Gesellschaften zu tun. In Ländern mit einer hohen Anzahl an Analphabeten kommen Gedichten, die über das Ohr wirken können, wichtige aufklärerische und soziale Funktionen zu. Sie sprechen von sozialen Ungerechtigkeiten, oft geben sie endlich jenen eine Stimme, die jahrhundertelang unterdrückt wurden.
»Schamrock« präsentiert Lyrik von Frauen. Sie meinten einmal, erst die englische Literatur habe Ihnen »etwas über Stärke und Eigenheit literarischen weiblichen Sprechens« eröffnet. Worin bestehen diese?
Mich sprachen vor allem der Eigensinn und Witz der Autorinnen an – ein scharfer, dabei humorvoller Blick auf die Welt. Ich war tief beeindruckt, wie reich und vielfältig das englischsprachige Schreiben schon im 19. Jahrhundert war. Der Bogen lässt sich von Jane Austen über die Brontés und Dichterinnen wie Emily Dickinson oder Virginia Woolf spannen. Diese Kontinuität fehlt im Deutschen. Wir haben Droste-Hülshoff, aber sie steht allein. Und für später gilt: Welche Lyrikerin hat es denn wirklich in den Literaturkanon geschafft? Es fehlen Identifikationsfiguren? Auch, aber das steht für mich nicht an erster Stelle. Ich habe Gedichte über eine Fehlgeburt geschrieben. In der Gedichttradition, die ich kenne, gibt es dieses Thema nicht. Grundsätzliche weibliche Körper- und Lebenserfahrungen blieben ausgespart. Welche Lücke! So groß und so vertraut, dass manch einer sie bis heute nicht einmal bemerkt. Das entsetzt mich immer wieder und schmerzt mich.
Interview: Petra Hallmayer
Beim 3. Schamrock-Festival der Dichterinnen treten etwa 50 Dichterinnen und Musikerinnen aus 19 Ländern auf. Ein Highlight des diesjährigen Festivals: der Auftritt der amerikanischen Spoken-Word-Pionierin Lydia Lunch am 28. Oktober. Die Festivalleitung haben die Lyrikerin Augusta Laar und der Klangkünstler Kalle Aldis Laar inne, Nora Gomringer fungiert als Beraterin. Sarah lnes Struck kuratiert den Länderschwerpunkt Indonesien.